Wolfgang Widerhofer im Gespräch mit Denise Vindevogel (Gewinnerin des Schnittpreises 2005 des Verbandes der EditorInnen Österreichs)

19. Juli 2019, Kategorie: Interviews

DIE MONTAGE, VERSUNKEN IN DER TIEFE DES FILMS

„Darwins Nightmare“ (Regie: Hubert Sauper) besitzt eine ziemlich ausgeklügelte Dramaturgie. Wann und wie haben Sie den „richtigen Weg“ durch all das heterogene Material gefunden?

Die Dreharbeiten bestanden aus drei Drehphasen zwischen den Jahren 2001 und 2003. Ich habe nach jeder Drehphase mit Hubert die Muster gesichtet. Wir haben sie gemeinsam ausgewertet und sehr viel diskutiert. Also war mein „Einstieg“ in die Arbeit an der Montage nicht plötzlich. Ich habe die Materie nicht erst entdecken müssen, ich war schon eingearbeitet, sie, die Materie, hat schon in mir gearbeitet.
Um die Konstruktion des Films zu erarbeiten, haben wir gewisse Vorgaben festgelegt:
– der gemeinsame Wille, den Film ohne darübergelegten OFF-Kommentar zu machen.
Wir dachten, dass man Vertrauen in die Rede der Protagonisten des Films gewinnen müsse und dass es nicht notwendig ist, mit unserer Intervention alles zu erklären, um den Film lesbarer zu machen. Dabei geht es auch darum, die Kraft des Bildes zu respektieren. Zuletzt wollten wir dem Zuschauer seine eigene Lektüre des Films lassen, ohne unsere darüber zu stülpen. Mit anderen Worten, wir zweifelten, dass der Zuschauer sonst „seine eigene Reise“ machen könne.
– der Wunsch der Didaktik zu entkommen, der Propaganda, dem Kämpferischen. Stattdessen wollten wir nur einen Bericht geben, der eine bestimmte Wahrheit über Mwanza hervorbringt, während der Monate, in denen Hubert dort gedreht hat.
Wir haben bestimmte Personen ausgewählt, bei denen sich bestimmte Themen entwickeln konnten und mussten. Zum Beipiel: die russischen Piloten und der Transport von Fischen und Waffen; die Fischer und ihre Lebensumstände, die Krankheiten, Aids und der Tod; der Chef der Fischfabrik und der Handel und Export mit dem Nilbarsch; die Prostituierten und die Gewalt, Krankheit, Tod, usw.
Auf der Basis dieser Festschreibungen haben wir beschlossen den Film mit einer impressionistischen Beschreibung beginnen zu lassen. Erst Stück für Stück geben wir die Erklärung und Analyse der Situationen. Wir hofften, den Zuschauer in die Entdeckung des kleinen Dorfes hineinzuführen, damit er Stück für Stück dem Gezeigten Sinn geben kann.
Von Beginn des Films an haben wir die unterschiedlichen Themen des Films etabliert. Außerdem haben wir uns sehr bemüht, neben der narrativen Linie (Erzählung) die informative und/oder emotionale Linie parallel zu entwicklen und letztere schrittweise zu verstärken.
Unsere Überlegungen führten zu einem Zugang, der die Ideen Charles Darwins direkt angreift.

Bei der Montage von „Darwin’s Nightmare“, wie viel Zeit verbringt man dabei am Schneidetisch und wie viel davon ist freies Nachdenken über die Struktur und Dramaturgie?

Nachdem wir uns am Schneidetisch mit der Konstruktion auseinander gesetzt hatten, haben wir einige Tage am Papier gearbeitet, um diese Konstruktion niederzuschreiben. Wir haben aus einer Liste ganz bestimmter Elemente ausgewählt. Ausgehend von diesen Elementen haben wir die erste Struktur des Films entwickelt.
Wenn man sich einem Langdokumentarfilm gegenüber sieht, dann scheint es mir essentiell, dass man eine allgemeine Idee des Weges hat, den der Film zurücklegen wird: zu wissen, wo man beginnt, wie man weiterentwickelt und wie man zu einem Ende kommt. Sich hinsetzen und die Sequenzen nach purer Intuition anordnen, das bringt einen nicht sehr weit, und man verliert dadurch oft Unmengen an Zeit.
Ich sage manchmal „Ich trete in die Montage ein“, so wie man sagt: Ich trete einer Religion bei… oder ich trete ins Kloster ein.

Sie schneiden Dokumentarfilm und Spielfilm, haben Sie eine Präferenz für eines der beiden Genres?

Ich habe da keine Vorlieben.
Meiner Ansicht nach ist es wichtig, motiviert und interessiert zu sein vom jeweiligen Film und seinen Problematiken. Ich mag es, wenn der Film zu mir spricht und mich anregt. In Wirklichkeit habe ich mich zwischen Langspielfilmen, Fernsehfilmen und Dokumentarfilmen aufgeteilt.
Darüber bin ich sehr froh, denn von einem Format ins andere zu wandern hilft mir, Zugänge zu „exportieren“, die Grenzen zu überschreiten.
Deshalb suche ich, wenn der Dokumentarfilm es erlaubt, eine „dramturgische“ Konstruktion, die interessiert oder erstaunt. Die Dinge enthüllen sich dann Stück für Stück, wobei ich immer auch die Entwicklung des emotionalen Bogens im Auge habe. Diese Methode inspiriert dann wiederum die narrativen Lösungen beim Spielfilm. Der Dokumentarfilm hat mich eine Freiheit bei filmischen Anschlüssen gelehrt, die manchmal auch gut für den Spielfilm ist, weil man sich von gewissen Zwängen befreien kann. (oder: von eingefahrenen Gleisen)
Ich stelle die Hierarchie völlig infrage, die den Langspielfilm als ehrenwertes Ziel ansieht, als die Spitze, die man unbedingt erreichen muss.
Ich würde sagen, dass im Dokumentarfilm die Arbeit an der Montage manchmal viel kreativer ist, weil sie entscheidenden Anteil an der Konstruktion des Films hat, am Festschreiben des Films.
Im Spielfilm ist die narrative Entwicklung meistens viel festgelegter und erfordert weniger Arbeit bei der Montage.

Da Sie auch Schnitt unterrichten, welchen Rat geben Sie Ihren Schülern und Schülerinnen – gibt es eine Methode gut zu schneiden?

Ohne Zweifel, um einen Film so gut wie möglich zu montieren, muss man ihn verstehen und ihn fühlen, man muss das Rationale und das Analytische und gleichzeitig das Emotionale und Intuitive in sich wachrufen. Man muss auch, ohne zu zögern, vom Globalen ins Detail übergehen können, ohne dabei jemals das eine oder das andere aus den Augen zu verlieren. Montieren heißt, eine Recherche ins Herz des Films zu machen, in seinen „inneren Kern“, es ist eine Suche nach dem langen Atem.
An die Montage heranzugehen, um ihre Existenz und Präsenz hervorzuheben, ist ein irregeleiteter Wunsch.
Sich auf Effekte stützen, auf das Vergnügen an der eigenen Brillanz, den tausendundeins möglichen billigen Tricks, daraus resultiert nicht nur Oberflächlichkeit, sondern es dient häufig dazu, eine große Leere zu verbergen. Ich will das hier keineswegs verdammen oder sagen, dass ich diese mittelmäßigen Techniken ablehne. Ich will nur sagen, dass man sie mit Vorbedacht anwenden soll und nur wenn der Film es erfordert. Aber nicht um jeden Preis, damit sich was rührt, damit es knallt, damit man Rhythmus bekommt.
Ich würde sagen, dass die Montage versteckt sein soll, in natürlicher und unsichtbarer Weise in der Tiefe des Films versunken.
Vor jeder Sequenz stellt sich die Frage: Warum ist diese Sequenz geschrieben worden, was ist ihr Sinn und Ziel in der Erzählung?
Das geht auch von der gängigen Meinung ab, dass der Editor nur die besten Momente auswählen muss, um einer Szene den vollständigen Sinn und die beste Emotion zu geben.

Was ist Ihrer Meinung nach eine gelungene Zusammenarbeit zwischen Regie und Montage?

Ich finde mich gerne mit dem/der Regisseur/in in einer Übereinkunft, die besagt, dass wir beide dem Film bestmöglich dienen. Das ist nicht immer selbstverständlich, manche RegisseurInnen nehmen nicht richtig wahr, was wirklich in ihrem Film drinnen steckt. Sie interpretieren dann beim Ansehen der Muster Intentionen und Vorstellungen hinein, Dinge, die nur in im eigenen Kopf existieren….
Dann kann der Dialog sehr mühsam werden…
Es ist mir unmöglich, so eng mit jemandem manchmal über Monate hinweg zusammenzuarbeiten, ohne dabei ein Arbeitsverhältnis und eine gmeinsame Sprache zu haben. Ich schätze es, wenn jeder das gleiche Recht hat, kritisch zu sprechen, auch wenn am Ende dem/der Regisseur/in die letztgültige Entscheidung obliegt.
Es ist mir unmöglich, nur zu „exekutieren“, das gefällt mir nicht.
Die wenigen Male, wo mir das passiert ist, habe ich mich schlecht gefühlt und nichts mehr gewünscht, als dass es ein Ende hat und man niemals wieder zusammenarbeiten muss.
Wenn man nicht zusammen arbeiten kann, dann ist die einzig gesunde Lösung, sich zu trennen.

Können Sie uns Filme nennen, die Sie wegen ihrer außergewöhnlichen Art des Schnitts beeindruckt haben?

Diese Frage überfordert mich, denn wenn mich ein Film berührt, dann wegen anderer Qualitäten als der Montage. Ich mag es nicht, wenn man die Montage aus dem Ensemble des Films herauslöst. Ein Film, das ist eine mehr oder weniger herausfordernde Geschichte, das ist die Entdeckung des philosophischen und ästhetischen Universums eines Autors, das ist die Relevanz (Bedeutung!!) oder die Vortrefflichkeit (herausragende Qualität!!) seines Drehbuchs, das ist die Genauigkeit und Sensibilität des Schauspiels, etc., etc.
Die Montage ist nur ein Element des Ganzen.
Sich auf Montage zu konzentrieren, das führt dann oft dazu, dass rhythmische und schnell geschnittene Passagen als brillant bezeichnet werden. Aber um den Rhythmus einer emotionalen Sequenz zu finden, bedarf es meist mehr als des Rhythmus einer aufgeregten Schlägerei. In chaotischen, frenetischen Szenen dürfen die Schnitte und Anschlüsse ruhig wild sein. Je mehr es weh tut, umso besser.
Im Vergleich dazu wirkt sich der Wechsel von einem Bild zum nächsten in langsamen Passagen viel stärker aus. Man muss den exakten Moment finden und den Schnitt setzen, ohne dabei Emotion abzuwürgen, ohne zu lange oder zu kurz zu bleiben.
Um Ihnen anders zu antworten, würde ich sagen, der Film, der mich in Richtung Kino gebracht hat, war „Hiroshima, mon amour“. Seine Drehbuchkonstruktion hat mich die außergewöhnlichen Möglichkeiten entdecken lassen, wie man mit Zeit und Raum spielen kann, wie die Zeit real und mental gleichzeitig sein kann.

Wenn Leute über Schnitt sprechen, dann reden sie häufig über den Rhythmus. Handelt Filmmontage von Rhythmus, oder verwenden Sie noch andere Begriffe, um Montage zu beschreiben?

Der Rhythmus ist natürlich sehr wichtig.
Aber Montage reduziert sich nicht auf sich selbst.
Die Montage spielt mit der Struktur, der Erzählung, der Schnittmenge, der Zeit, deren Verdichtung oder Verzögerung, der Gegenwart, dem Vergangenen, der realen Zeit, der mentalen Zeit, der phantastischen Zeit, dem Raum etc.
Im Moment tendiert die Rede über Rhythmus zur Geschwindigkeit, vor allem im Zusammenhang mit Fernsehen. Es muss sich ständig bewegen und ständig aufregend sein. Der Inhalt ist weniger wichtig, es bleibt nicht viel übrig.
Oder wie der Chef von TF1 sagt, es geht darum, die freie Zeit im Hirn an Coca Cola zu verkaufen.
Aber Rhythmus ist nicht gleich Geschwindigkeit. Der Rhythmus ist das Tempo, in dem sich die Dinge ereignen, er kann überstürzt sein, aber er kann auch langsam sein.

Warum wird Filmmontage nicht mehr geschätzt und relativ schlecht bezahlt im Vergleich zu Regie, Kamera, Musik…? Weil Filmmontage per se unsichtbar sein soll?

Ironisch gesagt, weil sie sich in dunklen Räumen abspielt, die nur wenige Leute betreten… Weil außerhalb des Kreises der Professionellen nur wenige Leute von der Existenz dieser Arbeit wissen. Wie oft bin ich gefragt worden, wenn Leute gehört haben, dass ich Filme montiere: „Und was ist das für eine Arbeit?“
Auf DVDs kann man oft das nicht verwendete Material von Filmen sehen. Aber eine Kamera geht nie in einen Schneideraum. Das ist kein fotogener Ort. Es ist nichts Aufregendes daran, zwei Leute vor einem Schneidetisch sitzen zu sehen und ihnen dabei zuzusehen, wie sie in einer seltsamen Art über seltsame Dinge reden. Dieser Ort hat nichts Attraktives.
Es ist ein kleines Labor ohne großes öffentliches Interesse.
Wir, die Editoren, wir sind die Menschen im Schatten. Das ist nicht schlimm, man muss es wissen, und manchmal hat man Gelegenheit, sich zu zeigen und den Leuten verständlich machen, dass wir keine Fantome sind, sondern real exisieren.

(Interview mit Denise Vindevogel, 5. März 2006 / Interviewer: Wolfgang Widerhofer)

Wolfgang Widerhofer: Editor, Vorstandsmitglied im Verband Film- und Videoschnitt.
Filmauswahl: Unser täglich Brot, Elsewhere, Senad und Edis, Pripyad, Das Jahr nach Dayton (Nikolaus Geyrhalter), Operation Spring, Am Spiegelgrund (Angelika Schuster, Tristan Sindelgruber), Flugnummer 884 (W.Widerhofer, Markus Glaser), Nachtreise (Kenan Kilic).