Eine kurz geschnittene Geschichte des Filmschnitts

23. Juli 2019, Kategorie: Texte zur Montage

Wie die meisten Geschichten beginnt auch die Geschichte des Filmschnitts mit einem Schnitt – genau genommen mit einem zwischen Faktum und Phantasie siedelndem (und meistens unter der Rubrik „Zufall“ ausgegebenem) Ereignis, welches das Vorherige als einschneidend durchkreuzen und das Folgende dementsprechend bestimmen sollte.
Bei einer seiner Filmaufnahmen soll sich dem französischen Illusionisten und Filmkünstler Georges Méliès im Jahr 1896 der Filmstreifen in der Kamera verfangen haben. Durch die dadurch erzwungene einminütige Pause ergab sich ein Anschluss, der Méliès bei der anschließenden Sichtung staunen ließ: da, wo vorher ein Omnibus gefahren war, sah man nun einen Leichenwagen; aus den Männern, die eben noch im Bild waren, waren plötzlich Frauen geworden.
Dass es dieser Zufall war, der die Idee zum Filmschnitt generiert haben soll, mag als Beitrag zur Anekdoten-Geschichtsschreibung belächelt werden. Tatsache ist, dass bis zu diesem Zeitpunkt die einzigen Filmschnitte im Beschneiden der Filmstreifen am Anfang und am Ende der single-shot-scenes bestanden. Mit Méliès’ Panne immerhin, die, technisch gesehen, kein Schnitt, sondern ein Stop-Motion-Effekt war, wurde das Prinzip augenfällig, dass sich Einstellungen verschiedenen Inhalts nahtlos aneinanderreihen ließen, ohne dass die Illusion von der Einheit des Raums und sogar des fortlaufenden Zeitflusses Schaden litte.
Für die Entwicklung der Montage ausschlaggebender als dieser Zufall war zweifellos eine markante formalästhetische Verschiebung im Gebrauch der noch jungen Filmtechnik. Bereits im ersten Jahrzehnt der Filmgeschichte verlagerte sich der Schwerpunkt von vergleichsweise primitiven (zunächst einminütigen) dokumentarischen Aufnahmen hin zu fiktionalen Filmen, in denen bald mit den verschiedensten Einstellungsgrößen, Kamerapositionen und –perspektiven gearbeitet wurde. Einhergehend mit der zunehmenden Arbeitsteilung sowie der Gliederung der Storyvorlagen nach ökonomischen Gesichtspunkten, welche eine nicht chronologische, in Sets und Takes fragmentierte Auflösung vorsahen, begann der Begriff der „continuity“ ab 1910 ein tragendes Werksprinzip zu bezeichnen: die Montage von getrennt gefilmten oder entlegenen Raum- und Zeiteinheiten zu visuell ungebrochenen, filmisch kohärenten Erzählräumen und Zeitverläufen im Dienst einer kontinuierlich ablaufenden Handlung.
Der Name, den man in Hollywood unmittelbar mit diesem Montageprinzip verknüpft, ist David W. Griffith. Die von ihm entwickelten Grundprinzipien der Filmmontage sind bis heute grundlegend für klassische Hollywoodfilme: Neben der Parallelmontage waren dies vor allem der so genannte „Point-of-view-shot“, die „180-Grad-Regel“ und das erwähnte „Kontinuitätsprinzip“.

Während das Prinzip des „continuity editing“ maßgeblich für die Etablierung des „Classical Hollywood“-Stils wurde, begannen vor allem russische Filmkünstler in den 20er Jahren mit der Montage schöpferisch zu experimentieren. Bei Filmkünstlern wie Kuleshow, Pudowkin und Eisenstein diente die Montage nicht mehr vorrangig der Unterstützung einer linear fortlaufenden Handlung. Vielmehr konzentrierten sie sich auf die sogenannte „Montagewirkung“ bzw. die „sinnbildende Montage“, bei der es darum ging, die Aufmerksamkeit der ZuseherInnen auf relevante Teilaspekte im Rahmen der Handlung zu lenken.
Am meisten Aufsehen erregte Sergej M. Eisenstein mit seinem Konzept der „intellektuellen“ oder der „dialektischen Montage“: Statt das Nebeneinanderstellen von konträren Einstellungen als deren Summe (in einer, wenn man so will, „aufsteigenden“ Handlungslogik) zu begreifen, sollten sie auf die Schöpfung einer völlig neuen Sinneinheit abzielen.

Im Gegensatz zu dieser Form der Kollisionsmontage setzt das klassische Hollywood-Kino auch ab Beginn des Tonfilms weiter auf das Prinzip des „continuity editing“ – und perfektionierte es. Im Rahmen dieser Perfektionierung freilich wurden die Grenzen dessen, was ein glatter (sprich: „unsichtbarer“!) räumlicher und zeitlicher Übergang ist, immer wieder aufs Unterschiedlichste herausgefordert. Das grundlegende Prinzip des „Eyeline Match“-Cuts beibehaltend, das für jeden Einstellungswechsel einen blicklogischen Anschluss – am auffälligsten im dialogisch motivierten „Schuss-Gegenschuss-Prinzip“ – vorsieht, begannen FilmemacherInnen mit der Konvention des „Matchens“ zu spielen, indem sie für völlig absurde Raum- und/oder Zeitsprünge diesem Prinzip gemäß „logische“ (und konsequenterweise als „match cut“ bezeichnete) Anschlüsse vorsahen. Zu den bekanntesten „match cuts“ zählen etwa die Szene in Stanley Kubricks A Space Odyssey (USA 1968), wo ein von einem Urmenschen in die Luft geworfener Schenkelknochen mit einem form- und bewegungsgleichen Raumschiff „gematcht“ wird – oder die Szene in Alfred Hitchcocks North by Northwest (USA 1959), in der Cary Grant der am Mount Rushmore über dem Abgrund baumelnden Eva-Maria Saint die rettende Hand reicht und sie – in einem Zugschlafwagen in das oben liegende Bett hochzieht.

Nicht einen Bruch, aber doch eine spürbare Herausforderung ans klassische Regelwerk stellte ab den 50er Jahren der Versuch der französischen Nouvelle Vague dar, die gängige Anschlusslogik von Raum und Zeit durch ein Prinzip der Diskontinuität zu durchbrechen. Am radikalsten sichtbar wurde dieses hauptsächlich durch die Montage bewerkstelligte Prinzip in den überraschend eingesetzten „jump cuts“, mit denen etwa Jean-Luc Godard den gleitenden Handlungsfluss zugunsten einer freien, sprunghaft wahrnehmenden Erzählweise ins Holpern brachte.

Beeinflusst von der Nouvelle Vague, aber auch von diversen Spielarten der filmischen Avantgarde, begann sich ab Mitte der 60er Jahre auch Hollywood (genau genommen das so genannte „New Hollywood“) experimentelleren Formen der Montage zu öffnen – sodass mittlerweile, bei gleichzeitiger Beibehaltung des klassischen „continuity editing“, Kurzschnitt-Passagen, „cut-aways“, Motiv-„inserts“ etc. zu den Gepflogenheiten auch des Mainstreams zählen.

von Mag. Robert Buchschwenter