À bout de souffle, Jean-Luc Godard

Unsichtbar vor aller Augen

2. April 2020, Kategorie: Texte zur Montage

Mit der Montage folgt das Kino den Gesetzen des menschlichen Bewusstseins.
Text: Bert Rebhandl

Das Kino entsteht aus zwei Wörtern: „action“ und „cut“. Mit dem einen beginnt ein „take“, mit dem anderen endet er. Mit dem einen beginnt ein Geschehen, mit dem anderen wird aus dem Geschehen eine Sequenz, die im Moment des Schnitts zu Ende geht. Das Wort „cut“ ist hier noch ein wenig anders gemeint als später beim Schneiden der „takes“: Beim Drehen gibt es immer nur diesen einen Schnitt, zwischen den Momenten, in denen die Kamera läuft, und allen anderen. Später wird aus den „takes“ etwas geschnitten, was man dann auch wieder als „cut“ bezeichnet, nun aber als Hauptwort: jeder Film ist ein „cut“ aus „takes“.
Wie die Sprache insgesamt, ist auch die Sprache des Kinos voller Geheimnisse und Wunder. Das hat mit der besonderen Beziehung des Mediums zum menschlichen Leben zu tun. Es dauerte bis an die Schwelle zum 20. Jahrhundert, bis die Menschheit etwas erfand, das mit einem der wichtigsten Charakteristika der Existenz mithalten konnte: mit der Bewegung. Schon für die Griechen war das eine der ersten Erkenntnisse: Alles fließt. Das Kino brachte die Bilder zum Fließen, plötzlich gab es für den Sehsinn eine Entsprechung zu dem, was alles Leben bestimmt: kinesis ist bei Aristoteles der fundamentale Begriff der Physik.
Allerdings ist die Bewegung im Kino eine Illusion. Denn sie bringt eine Tatsache zum Verschwinden, die das Medium von seiner kleinsten Einheit (dem Einzelbild) bis in seine elaboriertesten Produkte (heutige hochdigitalisierte Blockbuster) bestimmt hat. Die Wirklichkeit des Kinos ist keine natürliche, sondern immer eine zusammengesetzte – und die paradoxe Verbindung zwischen den Teilen bildet der Schnitt, eine Naht, die zugleich trennt und eint, ein Übergang, der in einem normalen Spielfilm so häufig ist, dass er in der Regel gar nicht mehr auffällt.
Es sei denn, der Schnitt macht sich bemerkbar. Dann hat man mitunter den Eindruck, die (abgebildete) Wirklichkeit habe einen Sprung. Jean-Luc Godards Klassiker À bout de souffle erregte Anfang der sechziger Jahre auch deshalb Aufsehen, weil er Jump Cuts erhielt – also Sprünge in der Montage. Das war aber nur deswegen ungewöhnlich, weil die Filmindustrie davor sehr daran interessiert gewesen war, dass Schnitte möglichst unsichtbar blieben. Vor allem in Hollywood wurde nach der Einführung des Tonfilms eine Form entwickelt, wie man die essenzielle Zusammengesetztheit von Filmen möglichst unauffällig erscheinen lassen konnte. Das beste und einfachste Beispiel sind Dialogszenen, die in Schuss und Gegenschuss aufgelöst werden: Eigentlich ist das eine unnatürliche Anordnung, denn man müsste sich dazu eine Kamera vorstellen, die ständig umspringt. De facto könnten es aber zwei Kameras sein, oder – noch wahrscheinlicher – es war nur eine Kamera, und der Dialog hat gar nicht stattgefunden. Stattdessen wurden zwei Monologe zu einem Gespräch zusammengeschnitten. Der Schnitt verbindet hier mehr, als er trennt. Er fügt zwei Weltausschnitte zusammen.

Filmschnitt beruht auf einem grundlegenden Akt des menschlichen Weltverhältnisses: Mit jeder Erkenntnis, mit jeder Bewusstseinstatsache nehmen wir etwas aus der Wirklichkeit heraus. Wir können uns auf die Totalität der Wirklichkeit niemals total beziehen, dazu müssten wir selbst „total“ werden (eine andere Bezeichnung für das, was traditionell
als Gott bezeichnet wird). Alle unsere Kontakte mit der Welt sind Ausschnitte: Sinneserfahrungen und Gedanken setzen sich zu einem Phänomen zusammen, das wir Bewusstsein nennen. Die Träume gehören auch zu diesem Bewusstsein, sie machen uns mit ihren manchmal fantastischen Verläufen deutlich, dass das Bewusstsein eine Montage ist.
Der deutsche Theoretiker Niklas Luhmann hat ein ganzes riesiges Denkgebäude über die menschliche Gesellschaft auf das Faktum gegründet, dass jeder Akt der Distanz von der Wirklichkeit (also jeder Bewusstseinsakt) auf einer Beobachtung beruht. Wenn man also ein Bild malt oder eine Einstellung dreht, dann beobachtet man im Grunde diese erste Beobachtung, dieses erste Bild, das man sich von der Welt gemacht hat.
In analoger Weise ist ein Film dann ein Bild von unserer ersten Beobachtung der Welt. Und der Filmschnitt ist so etwas wie die Gestaltung dieser Bewusstseinsarbeit. Das lässt sich an einfachen Beispielen erkennen: Das Denken arbeitet mit Analogien aller Art, es stellt Verbindungen zwischen Beobachtungen her. Das Bewusstsein funktioniert dabei nach Art eines Memoryspiels: Wir erkennen Dinge nach dem Muster von Dingen, die wir schon davor erkannt haben. In ähnlicher Weise kann die Montage das Bewusstsein steuern, sie kann auf Dinge hinlenken, oder sie kann versuchen, dem mitdenkenden und mitsehenden Publikum einen Streich zu spielen, und etwas zum Beispiel „vor aller Augen“ verstecken.
Dabei spielt die Komplexität des Bewusstseins eine entscheidende Rolle: Es ist vielleicht mehr als ein Zufall, dass das Kino und die Psychoanalyse historisch ungefähr gleich alt sind. Seit wir vom Unbewussten wissen, und nicht zuletzt von den Streichen, die das Unbewusste der Wahrnehmung spielen kann, ist auch die Montage der Welt in Filmen noch einmal vielschichtiger geworden.
Der Surrealismus mit seiner Aufhebung der geläufigen Verknüpfungen von Wirklichkeit und Bewusstsein war nicht zufällig eine Avantgardebewegung im Zeichen einer Montage – von Dingen, die für gewöhnlich nicht zusammengehören würden, die das Bewusstsein aber problemlos zusammenfügen kann. Durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch haben die Künste sich an der Frage abgearbeitet, ob es richtiger ist, die Wirklichkeit möglichst nach ihren eigenen Gesetzen abzubilden (das Paradigma der Klassik, auf die Montage umgelegt: möglichst wenig zu schneiden), oder ob es wichtiger ist, der Freiheit des Bewusstseins zu ihrem Recht zu verhelfen (das Paradigma der Moderne, mit ihrem Grundprinzip der Reflexivität, und auf die Montage umgelegt: möglichst viel zu schneiden). Das Erzählmodell des klassischen Hollywood-Kinos neigte dem einen Pol zu, der Experimentalfilm fand alle Möglichkeiten in die andere Richtung bis zum rasenden Schnitt direkt mit dem Material in der Kamera.
Als eigene Kunst wird gewöhnlich nur der Filmschnitt im engeren Sinn betrachtet: die Verknüpfung filmischer Einstellungen mit unterschiedlichen Graden der Artifizialität dieser Verknüpfungen. Doch im Grunde ist diese Detailarbeit (die natürlich ihre eigene Virtuosität ausprägen kann) nur der Spezialfall eines allgemeineren Phänomens: der immer komplexer werdenden Strukturierung der medialen Weltbezüge, die mit der Höhlenmalerei begannen und – vorläufig – bis zu virtuellen Universen geführt haben. Die digitalen Bildwelten beruhen dabei nicht mehr auf dem ursprünglichen Schnitt zwischen den Kadern, wie früher das Kino. Was das für das Schneiden und für den Filmschnitt im engeren Sinn bedeutet, dass nun ein lineares Kontinuitätsmedium die Grundlage für potenziell unendliche Welten bildet, das ist eine der spannendsten Fragen von heute. Die Verbindung zwischen „action“ und „cut“ ist jedenfalls nicht für die Ewigkeit. Das „cut“ könnte eines Tages der Vergangenheit angehören.